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Mathematik – die Ägypter nutzten sie, um das Bestmögliche aus der Nilschwemme zu machen, im Mittelalter half sie unter anderem mittels des Abakus beim Handeln und Feilschen, wer über den Großen Teich wollte, musste zumindest jemanden kennen, der sie beherrschte – und heute?

“3 mal 3 macht 6“

“Oh nein! Ich muss im Abi Mathe mündlich machen!“

“Mathe ist die dritte Fremdsprache!“

“Wofür brauch‘ ich das später eigentlich?“

“Ich kann das nicht! Herr Dräääääger!“

Die “Lange Nacht der Mathematik“ beginnt und hier hat keiner ein Problem mit Mathematik. Zwei Jahre lang konnten sie sich zu diesem Zweck nur online treffen, aber da fehlte der ganze Spaß: Nachts in der Schule, mit den Freunden, mit Lehrer*innen, denen die Note egal ist.

17:15 Uhr – Die ersten Mathematiker sind schon da, Herr Höchstetter und Herr Alex – Frau Prohl kann aus Krankheitsgründen nicht dabei sein – werden ein wenig überrascht. Schnell werden Leute zum Einkaufen geschickt.

17:30 Uhr – Die beiden Computerräume füllen sich. Ich beschließe, zu bleiben und mir das Treiben anzusehen. Schnell noch Sushi bestellt.

Gruppe gefunden? – Check.

Eingeloggt? – Check.

Stifte, Taschenrechner, Papier? – Check.

Über den Rechnern stapeln sich die Fresstüten. Es geht los.

18:03 Uhr – Viktor: “Ich geh‘ wieder nach Hause.“ Gerade hat er die erste Aufgabe gelesen.

„Benutzername und Passwort passen nicht zusammen.“ Der Schnuller der jüngsten Teilnehmerin ist nicht zu finden, Papa geht weg, das Brüllen beginnt. Der Server der “Langen Nacht“ stürzt ab. “In welchen Räumen dürfen wir eigentlich arbeiten?“

Anarchie: Im Computerraum wird gegessen. Vor Corona sei das nicht erlaubt gewesen, höre ich. Es wird getrunken, mit dem Handy am Ohr durch den Raum gelaufen. Während eine Hand tippt, schaufelt die andere Gummitiere in den pausenlos plappernden Mund.

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Fawaz, Ramya, Ha My, Sahra und Sofiane, die Betreuer*innen aus dem 11. Jahrgang, verlieren in der wuselnden Menge nicht die Nerven. Vielmehr beantworten sie nach und nach alle Fragen, nehmen Einverständniserklärungen der Eltern entgegen, um sich dann selbst über die Aufgaben zu beugen.

18:25 Uhr – Etliche Chipstüten mussten ihren Inhalt bereits teilen. An der Tafel entstehen die ersten geometrischen Figuren (beschriftete Punkte und Geraden, vielleicht auch Strahlen?), es kehrt Ruhe ein. „Warum liegen hier Schlafsäcke?“ Es steht die Frage im Raum, ob meine Anwesenheit jetzt eine Übernachtung hier möglich macht. Ich bin irritiert.

18:36 Uhr – 0=42*a-39*b+91*c-273*d. “Lass aus den Buchstaben Buchstabensuppe machen.“ Eine Aufgabe für die Neunt- bis Elftklässler*innen. Bei Verständnisproblemen soll untereinander diskutiert werden, schreiben die Veranstalter*innen. Das MRG nimmt in diesem Jahr in zwei Altersgruppen teil: 5./6. Klasse und 9. bis 11. Klasse. Pro Runde sind 10 Aufgaben zu lösen. Schafft es eine Gruppe der Schule, dann kommt automatisch die gesamte Schulgruppe dieser Alterskategorie eine Runde weiter. “Die frierenden Mathematiker 1“ erhalten die Ergebnisse aller anderen der Schulgruppe 9 bis 11, so bündeln sie ihre Ergebnisse, um ihre Chancen zu erhöhen. Werden falsche Ergebnisse eingegeben, wird die ganze Schulgruppe gesperrt. Kommunikation ist also wichtig.

©SPICKER: Elftklässlerin und Sechstklässler im Duell

18:54 Uhr – Auf dem Boden des großen Computerraums wird Schach gespielt. Mittlerweile sind auch die beiden Kunsträume auf der rechten Seite besetzt. Hier geht es ruhiger zu. Es gibt Anfragen, ob Freundinnen von anderen Schulen auch spontan teilnehmen könnten.

20:?? Uhr – „Er macht, glaub‘ ich, seit einem Jahr Krafttraining.“ Ein junger Mathematiker kommt direkt vom Handballtraining zur Mathematiknacht. Ein Fahrrad steht in der Kunst. Die erkrankte Mathematiklehrerin wird angerufen, als ein Problem nicht zu lösen ist und Hö und Ax nicht zu finden sind. Beim Hinweis auf die Betreuer*innen aus der 11. Klasse sehe ich leicht verwirrte Gesichter. Warum die fragen, wenn wir Frau Prohl anrufen können? Eine Aufgabe hat diese Gruppe gelöst, zwei Chipstüten geleert. Im großen Raum sieht es eklig aus. Aufräumen ist angesagt. “Alles für die Wissenschaft.“

20:43 Uhr – „JAAAA! JAAAA!“ Nach langem gemeinsamen Knobeln wurde ein Problem gelöst, ganz oldschool an der Tafel, ok: am Whiteboard. Ich durfte tatsächlich auch schon Fragen beantworten: In einer Aufgabe muss man wissen, was ein Indikativ und was eine fiktive Person ist. Ist eine Lehrkraft im Raum, dann wird sie wohl Bescheid wissen. Die Wirklichkeitsform des Verbs, eine ausgedachte Person. Aber auch bei zwei weiteren Fragen kann ich helfen, strike!

21:05 Uhr – 5 von 6 eingegebenen Lösungen der älteren Schüler*innen sind falsch. 10 Minuten Sperre für alle. 🙁 Eine wurde nur falsch eingegeben. Immer noch 4 von 6 falsch.

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21:15 Uhr – 48 Schüler*innen aus den Jahrgängen 6, 9, 10, 11 und 12, 3 Lehrkräfte und ein Baby sind mittlerweile hier. Das Baby schläft jetzt im Lehrerzimmer 4; ein Babyphone steht beim Vater. Der erste Schüler geht nach Hause. Im großen Computerraum wird getanzt. Im kleinen wird intensiver gearbeitet, einer guckt das Spiel der Crocodiles gegen die Hammer Eisbären. Aber nicht lange. Frau Prohl wird wieder angerufen.

21:45 Uhr – Das Schulläuten ist zu hören. Die 6. Klässler*innen haben 5 von 10 Aufgaben richtig gelöst. Zur Entspannung gibt es ein paar Online-Spiele. Herr Engel taucht vor den Computerräumen auf. Nach einem kurzen Austausch mit Herrn Alex ist er aber auch schon wieder weg.

22:47 Uhr – Um 22 Uhr klingelte es wieder, das ging fast unter. Die Älteren haben mittlerweile drei von zehn Aufgaben richtig gelöst. Sie schwanken zwischen Ehrgeiz und Aufgeben. Die Jüngeren scheinen sich nicht genügend auszutauschen: Einer berichtet mir, seine Gruppe habe schon vier richtige Lösungen. Was ist mit der anderen Gruppe, die fünf hat? Große Gefühle, weil der Freund, der eigentlich total blöd ist, nicht ans Handy geht. Um Herrn Höchstetter hat sich eine Traube gebildet: Siezen oder duzen? Und was sagt das eigentlich über unsere Beziehung aus? Hinter mir soll GeoGebra bei der Lösung eines Problems helfen. Neben mir diskutieren eine Schulsprecherin und ein Sechstklässler eine Aufgabe für die Jüngeren. Zwei weitere SR-Mitglieder diskutieren das Stimmverhalten in der Schulkonferenz. Die Mathematik ist der Anlass für diese Zusammenkunft, sie gibt ihnen einen guten Grund, sich zu treffen. Der Rahmen ist aber viel entscheidender: Sie haben hier die Freiheit, zusammenzuarbeiten, sich in ein Problem zu verbeißen, dann wieder loszulassen, über Altersgrenzen hinweg zu lachen, ihrem Körper dabei den Zuckerschock ihres Lebens zu verpassen, lauter zu werden, um das Gegenüber zu überzeugen. “Brother, trust me!“ Sie dürfen im Gebäude herumrennen, das Schulklingeln ignorieren, mit den Großen über ihre Beziehungsprobleme reden oder eben Beziehungstipps geben. Die Schule als Begegnungsraum, als Raum der Auseinandersetzung, der Anstrengung belohnt und Scheitern zulässt.

23:10 Uhr – Kerrin, Mathegenie aus dem Abijahrgang 2018, ist über IServ zugeschaltet, bereit zu helfen. Frau Prohl ruft diesmal selbst an. Zwei Schüler*innen rufen Mama und Papa an. Etwa die Hälfte der Anwesenden gibt nicht auf. Bis um 8 Uhr müssen die Lösungen für die erste Runde richtig ermittelt werden. Dann endet die “Lange Nacht der Mathematik”. Doch um Mitternacht ist hier Schluss. Wer wird zu Hause weitermachen?

Levin: “Ich nicht. Ich geh schlafen.“

00:01 Uhr “Happy birthday, Hatice!“ Wir singen. Die 6. Klässler*innen geben ihre Lösungen ein. Großer Aufschrei, der sich mit dem Geburtstagslied mischt: Eine Lösung ist falsch. Neun von zehn sind richtig. Alle packen zusammen, draußen warten die ersten Eltern. Über IServ, in der Videokonferenz, wollen Raja und Jakob auch noch das letzte Problem lösen. Auch die Älteren kommen nicht so einfach los.

01:13 Uhr – „Das machen wir noch schnell.“ Am Smartboard wird immer noch gerechnet. Vier Schüler*innen aus dem 11. Jahrgang und zwei Mathelehrer multiplizieren etwas aus, arbeiten an einer Gleichung. Haben sie womöglich die vierte richtige Lösung gefunden?

01:38 Uhr – Vier Lösungen sind richtig! Doch die noch im MRG Anwesenden kennen das korrekte Ergebnis der ersten Aufgabe nicht. Ob die 9. Klässler*innen noch wach sind? Das an der Tafel als richtig notierte Ergebnis wird nicht akzeptiert. Das Problem sind die Klammern.

01:57 Uhr – Fünf Richtige!

02:17 Uhr – Sechs Richtige! Gute Nacht!

Update, 18:55 Uhr, 20.11.2022

©Prohl

394 Schulen nahmen in diesem Jahr an der “Langen Nacht der Mathematik” teil. Sie stehen in Schleswig-Holstein – hier hat diese Nacht ihren Ursprung – in Berlin, in Luzern, aber auch im Silicon Valley (und in Arcadia Bay, das sollte dringend jemand überprüfen…). Um 05:31 Uhr, in der Nacht vom Freitag auf den Samstag, erfuhren Fiete und Hannes aus dem 6. Jahrgang des MRG, dass sich ihre Mühe gelohnt hatte: Sie hatten die 3. Runde erreicht! Auch Raja und Danin hatten sie in der Nacht noch unterstützt. Gratulation an unsere Sechstklässler*innen!

In der 3. Runde muss man die Rechenwege und die Lösung auf Papier festhalten und beides im Fotoformat digital einsenden. Die Veranstalter*innen um Jochen Carow haben also auch am Samstag danach viel zu tun: Diese Einsendungen werden manuell überprüft. Das Team sucht dringend Verstärkung.

Schlaf nachgeholt, Kräfte getankt? Die nächste “Lange Nacht der Mathematik” wird vom 24. auf den 25. November 2023 stattfinden.

3 Gedanke zu “Die „Lange Nacht der Mathematik“ 2022: Live, in echt und in Farbe”
  1. Es ist schön zu sehen, dass die Schülerinnen an der “Langen Nacht der Mathematik” teilnehmen und so viel Spaß haben. Es ist wichtig, dass Schülerinnen die Möglichkeit haben, ihre Mathematikkenntnisse zu verbessern und ihre Interessen zu fördern. Diese Art von Veranstaltungen können dazu beitragen, dass Schüler*innen Mathematik als faszinierendes Fach sehen und sich für weitere Studien in diesem Bereich interessieren.

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